Gemächlich schritt sie durch die Annastraße. Vom gestrigen Gefecht mit ihrer Hausherrin schmerzten ihr noch immer die Gliedmaßen, obgleich ihren zottigen, zittrigen Beinchen der von der Mutter angelegte Verband Halt gab.
Sie genoss den ruhigen Moment der Empfindung der wohligen Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem Rücken, während um sie herum Füße auf den Boden stampften, diesen so erschütterten, dass Staubwellen auf sie einbrachen. In diesem Getöse suchte sie, die Idylle zu finden und sah sich neugierig um – hoffentlich wussten die anderen doch auch das Strahlen der Sonne zu schätzen? Die graubraune Wand verdunkelte ihr die Sicht, sodass sie mit keinem ihrer Äuglein so recht sehen konnte. Sie sah um sich herum ein monochromes Gewimmel, hörte ein monotones Gerede. Eine Kuppel aus Staub und Schmutz schien sie nun einzufangen – „Ich glaub, ich spinn‘!“, dachte sie sich und beschloss, sich auf eine nahestehende Bank zu retten. Sie kämpfte sich durch das Beingewirr und gewann mit jedem Schritt ein Stückchen Freiheit zurück. Auf der Bank angekommen, reckte sie jedes ihrer Füßlein und streckte sich dem Sonnenschein entgegen. Vor ihr bewegte sich die graue Masse währenddessen unaufhörlich weiter. Wie auf einem Fließband zogen die einander identischen Fabrikate an ihr vorbei. Oft, ja gar die meiste Zeit, war sie geblendet von kleinen, von den Gestalten getragenen Lichtern, die nicht der Sonne Geschenk sind. Farben, die sie so in der Natur nie zu sehen bekam stachen ihr ins Auge. Ein stetes Summen akkompagnierte den Lärm auf der Straße. Die synthetische Dissonanz fügte sich aus den aus allen Richtungen stammenden Geräuschen zusammen und kratzte an ihrem Hörsinn umso stärker, je geringer die Entfernung zwischen ihr und der grauen Flut wurde. Um nicht wieder überschwemmt zu werden, besann sie sich, ihren Spaziergang zu beenden und den Heimweg anzutreten. Sie lief so schnell, wie ihre lädierten Beinchen sie zu tragen vermochten, und als sie bei dem Haus, in dem sie zu residieren pflegte, ankam, war sie vollkommen erschöpft. Dennoch spann sie ihre letzten Kraftreserven zu einem Strang und zog sich bis zum Dachboden hoch. Beim Betreten des Dachbodens spürte sie die Behaglichkeit der warmen, trockenen Luft um sich herum. Als sie endlich das Spinnennetz erreichte, in dem sie mit ihrer Familie seit jeher hauste, fand sie die Mutter vor, weinend.
„Mutter! Was betrübt dich?“ fragte sie und spürte, wie sich all ihre Härchen sträubten.
„Sie haben deinen Bruder getötet. Nous ist tot!“
„Wieso hassen sie uns so sehr, Mutter?“
„Wir haben keinen Platz in ihrer Gesellschaft, Cultura.“
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„Εν μόνον αγαθόν είναι, την επιστήμην, και εν μόνον κακόν, την αμαθίαν.“
- „Es gibt nur ein Gut; das Wissen, und ein Übel; die Unwissenheit.“ (Sokrates)
M.S.