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Sims und Anar­chis­mus

Das Sims-Fran­chise (EA) ist eine belieb­te Samm­lung an vier, bald fünf, Com­pu­ter­spie­len, die alle dem­sel­ben Kon­zept fol­gen: Der Spie­ler hat die vol­le Kon­trol­le über das Uni­ver­sum sei­ner Sims und ist somit fähig, das „Leben“ aller sich im Spiel befind­li­chen Indi­vi­du­en zu kon­trol­lie­ren.

Dabei gibt es in dem Spiel selbst kei­ne herr­schen­den Indi­vi­du­en und Sims, deren Tages­ab­läu­fe nicht den auto­ri­tä­ren Anwei­sun­gen des Spie­lers fol­gen, sind in der Lage, sich selbst am „Leben“ zu erhal­ten, indem sie ihre Bedürf­nis­se stil­len. Ohne die­se Funk­ti­on wäre es schier unmög­lich, alle Sims vor dem Sen­sen­mann zu bewah­ren. Doch der Auto­ma­tis­mus beschränkt sich nicht nur auf die äußers­ten Grund­be­dürf­nis­se – rund­um ver­sorg­te Sims beschäf­ti­gen sich auch ohne mensch­li­che Hil­fe mit Luxus­gü­tern. So gön­nen sie sich ger­ne mal ein Getränk an der Bar, zocken die Nacht durch oder lau­fen ihren Lieb­lings-Pro­mis hin­ter­her.

Somit kann der Tota­li­ta­ris­mus als vor­herr­schen­de Staats­form im Sims-Uni­ver­sum aus­ge­schlos­sen wer­den, da die­ser durch eine Ideo­lo­gie, wel­che alle Berei­che der Gesell­schaft domi­niert, aus­ge­zeich­net wird. Die­se Ideo­lo­gie ver­tritt häu­fig den Anspruch, nicht nur jede Form von Plu­ra­lis­mus zu besei­ti­gen, son­dern auch den Men­schen an sich zu ver­än­dern (z.B. Nord­ko­rea).

Auch eine auto­ri­tä­re Dik­ta­tur kommt nicht in Fra­ge, da hypo­the­tisch gese­hen Mei­nungs­frei­heit herrscht – der Spie­ler, der in die­sem Kon­text der Dik­ta­tor wäre, hat nur nicht die Mög­lich­keit, mög­li­che Oppo­si­tio­nen zu erken­nen, da durch die sim­li­sche Spra­che eine unüber­brück­ba­re Sprach­bar­rie­re exis­tiert. Somit wer­den auch kei­ne Par­tei­en oder Grup­pen dar­an gehin­dert, demo­kra­tisch im Staat mit­zu­wir­ken.

Den­noch gab es in dem Meta­ver­sum der Sims bis­lang kei­ne Revo­lu­ti­on – schein­bar sind alle in dem Sys­tem hau­sen­den Indi­vi­du­en zufrie­den! Von Zufrie­den­heit im mensch­li­chen Sin­ne des Wor­tes zu spre­chen wäre unter Umstän­den mora­lisch ver­werf­lich, aller­dings ist zu beden­ken, dass die Simu­la­ti­on der­ma­ßen rea­li­täts­nah gestal­tet ist, dass Sims sogar Far­ben oder Musik­rich­tun­gen gegen­über eine Abnei­gung emp­fin­den kön­nen. Was ist also die Staats­form, wel­che allen ein glück­li­ches „Leben“ zu berei­ten scheint? 

Ist es die Anar­chie? 

Unter einer Anar­chie wird im poli­ti­schen Sin­ne ein Zustand der Gesell­schaft ver­stan­den, in wel­chem kei­ne staat­li­che Herr­schaft, kei­ne Auto­ri­tä­ten und kei­ne Hier­ar­chien jeg­li­cher Art exis­tie­ren. Im Mit­tel­punkt ste­hen Frei­heit, Selbst­be­stim­mung der Indi­vi­du­en, Gleich­be­rech­ti­gung, unein­ge­schränk­te Selbst­ver­wirk­li­chung der Indi­vi­du­en und kol­lek­ti­ve Selbst­ver­wal­tung.  

All die­se Kri­te­ri­en wer­den im Sims-Uni­ver­sum erfüllt — Fast. Der Spie­ler hat stets die Kon­trol­le über einen sei­ner Sims und kann ihn so an sei­ner frei­en Selbst­ent­wick­lung hin­dern. Aber kann in die­sem Kon­text von einer Dik­ta­tur die Rede sein? Anders als ein Mensch im rea­len Leben, hat der Spie­ler die kom­plet­te Herr­schaft über das Indi­vi­du­um. Er kann dabei nicht nur über die Hand­lun­gen die­ses Indi­vi­du­ums ver­fü­gen, son­dern dar­über hin­aus auch sei­ne Inter­es­sen, Vor­lie­ben und Abnei­gun­gen bestim­men. Der Spie­ler ver­kör­pert in dem „Leben“ der Sims damit eine Omni­po­tenz und kann mit einer Gott­heit ver­gli­chen wer­den. Wie die Sims, so hat auch der Mensch kei­nen Ein­fluss auf das Han­deln mög­li­cher gött­li­cher Krea­tu­ren und kann das Dasein die­ser nicht bewei­sen. Wird das ver­ein­fach­te Kon­zept der Sims-Com­pu­ter­spie­le auf das rea­le Leben über­tra­gen, so reprä­sen­tie­ren, zumin­dest aus the­is­ti­scher Sicht, die Mensch­heit mit­samt aller Indi­vi­du­en die Sims und eine gött­li­che Kraft den Spie­ler dar. Schon lan­ge wird dar­über spe­ku­liert, ob wir Men­schen in einer Simu­la­ti­on leben (vgl. bspw. „Matrix“). Die Simu­la­ti­ons­hy­po­the­se hat zahl­rei­che Anhän­ger, dar­un­ter unter ande­rem Elon Musk, und wird von For­schern und Phi­lo­so­phen seit Jah­ren dis­ku­tiert und berech­net, bewie­sen und wider­legt.

Doch unab­hän­gig davon, ob die­se Theo­rie stimmt oder nicht; ob es einen Gott gibt oder nicht, leuch­tet in die­sem Zusam­men­hang ein, dass der Anar­chis­mus der Ursprung aller poli­ti­schen Sys­te­me sein muss. Das athe­is­ti­sche Welt­bild setzt vor­aus, dass es kei­ne höhe­re Macht gibt, die die Gesamt­heit aller Indi­vi­du­en kon­trol­liert, sodass dem Men­schen von der Natur kein Herr­scher gege­ben wur­de. Wenn die the­is­ti­sche Per­spek­ti­ve ange­nom­men wird, es also einen oder meh­re­re Göt­ter gibt, dann kann erneut das Sims-Uni­ver­sum mit dem Spie­ler zum Ver­gleich her­an­ge­zo­gen wer­den. Über der Mensch­heit steht nur die gött­li­che Kraft, wel­che aber kei­ne herr­schen­de poli­ti­sche Posi­ti­on ein­nimmt. Ist die gött­li­che Kraft, gleich dem Spie­ler, fähig, das Leben ein­zel­ner Indi­vi­du­en von innen her­aus zu bestim­men, also die Ursa­che für jedes wei­te­re han­deln zu sein, so ist vom Deter­mi­nis­mus die Rede. Ist dies nicht der Fall und jedes Indi­vi­du­um kann zu jeder Zeit unein­ge­schränkt aus frei­em Wil­len han­deln, dann herrscht Pos­si­bi­lis­mus vor.

Es ist nicht mög­lich, eine die­ser Theo­rien zu bewei­sen, da es sich um eine rei­ne Glau­bens­an­ge­le­gen­heit han­delt, jedoch macht es bezüg­lich des Anar­chis­mus-Argu­ments kei­nen Unter­schied, da die gött­li­che Kraft kei­ne poli­ti­sche Macht auf die Indi­vi­du­en aus­übt, son­dern die­sen höchs­tens inne­wohnt. Somit haben die Men­schen sein Anbe­ginn der Zeit kei­ne macht­aus­üben­de, gesetz­ge­ben­de Instanz über ihnen, leb­ten also ursprüng­lich in einer Anar­chie. Die Men­schen selbst bega­ben sich in die „Archie“, indem sie sich Herr­scher gaben. So gab es in der Stein­zeit kei­ne regie­ren­den Per­so­nen wie Köni­ge oder Kanz­ler. Statt­des­sen gab es das Amt des Ober­haupts, wel­ches von Scha­ma­nen oder Kräu­ter­kun­di­gen besetzt wur­de. Die­ses Ober­haupt trug eine gro­ße Ver­ant­wor­tung und war für die Erhal­tung der Har­mo­nie zwi­schen der Menschen‑, Tier- und Geis­ter­welt zustän­dig. Der „Herr­scher“ war also vor allem für Orga­ni­sa­ti­on und Ord­nung zustän­dig.

Wird ein Blick in spä­te­re Zei­ten gewor­fen, so ist zu erken­nen, dass Herr­scher nicht mehr aus­schließ­lich wegen ihrer Fähig­kei­ten und für den rei­nen Zweck der Ver­wal­tung des Staats ihr Amt beschmück­ten. So war die Regie­rung des Alten Ägyp­tens (ca. 3000 v. Chr. – 395 n. Chr.), einer Hoch­kul­tur, geprägt von sakra­li­sier­ten Köni­gen. Pha­rao­nen gal­ten als Reprä­sen­tan­ten von Gott­hei­ten, sodass eine Mon­ar­chie unter dem Schlei­er einer Theo­kra­tie gedieh. (6) Das Got­tes­gna­den­tum wur­de im Lau­fe der Geschich­te häu­fig als Begrün­dung für mon­ar­chi­sche Herr­schafts­an­sprü­che ver­wen­det und galt auch als Legi­ti­ma­ti­on für den Abso­lu­tis­mus von Lou­is XIV. (1638–1715). Erst seit dem frü­hen 20. Jahr­hun­dert kam die Beru­fung auf das Got­tes­gna­den­tum außer Gebrauch, doch in der noch heu­te gül­ti­gen Ver­fas­sung von 1921 nann­te sich Johann II. „von Got­tes Gna­den sou­ve­rä­ner Fürst zu Liech­ten­stein“. Mit dem Ver­lust des Got­tes­gna­den­tums als all­zu güns­ti­ge Aus­re­de für ihr Han­deln muss­ten spä­te­re Herr­scher ihren Hun­ger nach Macht mit Mit­teln wie poli­ti­scher Pro­pa­gan­da stil­len (vgl. bspw. Natio­nal­so­zia­lis­mus). Die­ser deut­lich erkenn­ba­re Macht­miss­brauch ist mit­nich­ten not­wen­dig für die Erhal­tung eines Staats.

Dass der Anar­chis­mus eine allen poli­ti­schen Kon­sti­tu­tio­nen vor­aus­ei­len­de und die ein­zi­ge natür­li­che Ideo­lo­gie ist, wur­de argu­men­tiert. Ein wei­te­res, wenn auch anthro­po­mor­phis­ti­sches Indiz für die Natür­lich­keit die­ser Herr­schafts­form ist ihr Vor­kom­men in der Tier­welt. Tie­re beru­fen sich auf ihre Instink­te und haben somit nicht die mensch­li­che Fähig­keit, sozia­le Kon­struk­te zu über­den­ken. Doch gera­de die Tat­sa­che, dass sie sich instink­tiv in eine Anar­chie ein­fü­gen, beweist ihre Funk­tio­na­li­tät. Es könn­te der Ein­wand erbracht wer­den, dass in Tier­ge­mein­schaf­ten Hier­ar­chien bestehen – so gibt es in Wolfs­ru­deln Alpha­männ­chen und in Bie­nen­stö­cken Bie­nen­kö­ni­gin­nen – jedoch wur­den die­se Tie­re in ihre Rol­le hin­ein­ge­bo­ren und fol­gen nur ihren Instink­ten. Jedes ande­re Tier der Gemein­schaft folgt eben­falls sei­nen Instink­ten und führt eige­ne Auf­ga­ben aus – dies spricht für den vor­her genann­ten Deter­mi­nis­mus, da Tie­re, ohne wei­ter dar­über zu kon­templie­ren, sich ihren vor­her­be­stimm­ten Ver­ant­wor­tun­gen wid­men. Das Wort Hier­ar­chie ist hier des­we­gen falsch, da jedes Tier gleich­wer­tig ist und ledig­lich sei­ne Rol­le ver­wirk­licht. Dabei ist jede Rol­le von gleich­gro­ßer Bedeu­tung und unab­ding­bar für den Erhalt der Gemein­schaft. Hier­ar­chi­sche Gesell­schaf­ten sind des­halb ein Pro­dukt mensch­li­cher Gier, wäh­rend Tie­re durch das Befol­gen ihrer puren Instink­te funk­tio­nie­ren­de, nach­hal­ti­ge (und anar­chis­ti­sche) Gesell­schaf­ten seit jeher auf­recht erhal­ten. 

Wenn also unse­re Vor­fah­ren, das Tier­reich und sogar Simu­la­tio­nen uns zei­gen, dass Anar­chis­mus funk­tio­niert und durch die Abwe­sen­heit an Ord­nungs­re­geln Ord­nung schafft, wie­so leug­nen und ver­schmä­hen wir es dann? 

M.S.